Lynchjustiz in der Türkei: Pro- Kurdische HDP- Abgeordnete wurden festgenommen

04-11-2016

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurden zahlreiche HDP-Abgeordnete, unter anderem. auch die Co- Vorsitzenden der Partei Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag in einer Nacht und Nebel-Aktion durch die Polizei festgenommen.

Die HDP gilt als drittstärkste Partei in der Großen Nationalversammlung der Türkei. Die HDP- Abgeordneten, die dem prokurdischen Lager zugeordnet werden und Wahlstimmen von ca. 6 Mio. Menschen in sich vereinen, vertreten die Ansicht, dass die kurdische Frage in der Türkei nur im Parlament zu einem erfolgreichen Abschluss verhandelt werden kann.

Die unter Präsident Erdogan geführte AKP- Regierung wiederum wirft den HDP- Abgeordneten vor, Propaganda für die in der Türkei, EU und in den USA als verbotene Organisation eingestufte PKK zu machen.

Die türkische Regierung rechtfertigt die Festnahme damit, dass die Abgeordneten den Vorladungen der Staatsanwaltschaft keine Folge geleistet haben und daher gegen diese ein Vorführungsbefehl erlassen wurde, dessen Inhalt nun vollstreckt werde.

Diesen Festnahmen waren zuvor einige „pro-forma-rechtliche“ Maßnahmen unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit vorausgegangen:

Im Mai dieses Jahres wurde durch die Große Nationalversammlung der Türkei in Ankara (Parlament) mit einer vorübergehenden Verfassungsänderung die Immunität der HDP- Abgeordneten aufgehoben.

Diese Verfassungsänderung war auf Wunsch des Präsidenten Erdogan auf den Tagesordnungspunkt des Parlaments gesetzt worden. Die hierzu erforderliche 2/3- Mehrheit konnte erst in der dritten, und letzten Abstimmungsrunde erzielt werden.

Die Verfolgung der HDP- Abgeordneten war durch den, von der türkischen Regierung als gescheiterten Putschversuch deklarierten Ereignissen des 15.Juli 2016 ins Stocken geraten.

Am 20.Juli 2016 wurde durch den Hohen Sicherheitsrat der Türkei (MGK) die Verhängung des Notstandes empfohlen, die dann durch Präsident Erdogan nach einer Regierungssitzung auch verkündet wurde

Präsident Erdogan hatte mehrmals betont, dass, nach der Festnahme der Verantwortlichen der Ereignisse vom 15. Juli 2016 die HDP- Abgeordneten an der Reihe sind. Er forderte immer wieder die Gerichte und Staatsanwälte dazu auf, gegen die HDP-Politiker Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten.

Die Ereignisse vom 15. Juli 2016 schreibt die türkische Regierung dem von dem Prediger Fethullah Gülen geleiteten mutmaßlichen Parallelstaat in der Türkei zu. Die Gülen-Bewegung wird durch die türkische Regierung inzwischen als Terrororganisation definiert. Die Verstrickung der türkischen Regierung in die Gülen-Bewegung und die Sympathie der führenden AKP- Politiker, u.a. auch des Präsidenten Erdogan und des amtierenden Justizministers zu Gülen sind ein bekanntes und offenes Thema in der Türkei.

Durch Notstandsdekrete ist die Türkei bereits de facto in einen präsidialen Staat umfunktioniert.

Die von den HDP besetzten Bürgermeisterämter werden durch die Notstandsdekrete abgesetzt und durch Zwangswalter der AKP- Regierung besetzt.

So wurde auch letzte Woche die Oberbürgermeisterin die überwiegend mit Kurden bewohnte Großmetropole Amed (türk. Diyarbakir), Gültan Kisanak und der Co- Oberbürgermeister Firat Anli wegen „Unterstützung der PKK“ festgenommen und verhaftet.

Die Festnahme der prokurdischen HDP- Abgeordneten rückt eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage in die Ferne, denn ein Ausschluss der prokurdischen Abgeordneten führt dazu, dass eine politische Partizipation der kurdischen Bevölkerung ausgeschlossen wird.

In der Türkei gilt nach ihrer Verfassung die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Nach Art. 2 ihrer Verfassung ist die Türkei ein demokratischer Rechtsstaat; Nach Art. 28 gilt in der Türkei die Pressefreiheit.

Subsumieren wir nun die aktuellen Geschehnisse in der Türkei unter diesen Begriffen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen:

Wir konnten keine Demokratie in der Türkei feststellen, weil die vom Volke ausgehende Gewalt, hier das Parlament, sich dem Gemütswandel und Anweisungen eines Präsidenten unterworfen hat und nicht fähig oder gewillt ist, ihre Arbeit frei auszuüben. Prokurdische Abgeordnete, die vom Volk legitimiert wurden, werden festgenommen und die Opposition wird somit auf ein Minimum reduziert.

Rechtsstaatlichkeit wird ebenfalls mit der Lupe gesucht. Durch die Notstandsdekrete des Präsidenten Erdogan wurden zahlreiche Staatsanwälte und Richter des Amtes enthoben. Der Ministerpräsident der Türkei, Binali Yildirim, sagte einst in einer Rede vor den 81 Gouverneuren der türkischen Städte, „fürchtet euch nicht vor Fehlern. Macht einfach“. Präsident Erdogan rief denselben Adressatenkreis, hier die Statthalter auf, ab und zu mal auch außerhalb der Gesetze zu agieren.

Pressefreiheit ist die Freiheit, Tatsachen, Meinungen, Stellungnahmen und Wertungen zu verbreiten und ohne Befürchtung von Repressalien verbreiten zu dürfen. In der Türkei sind derzeit zahlreiche Journalisten, die regierungskritische Stellungnahmen abgaben, inhaftiert und zahlreiche Medien geschlossen worden. Nach dem Bericht des „Reporter without Borders. For Freedom of Information“ ist die Türkei in der Platzierung der Pressefreiheit bei 180 Staaten auf Rang 151!

Die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative als Grundprinzip politisch- demokratischer Herrschaft und der Organisation staatlicher Gewalt mit dem Ziel, die Konzentration und den Missbrauch politischer Macht zu verhindern, konnten wir in der Türkei ebenfalls nicht feststellen.

Die Legislative hat sich dem Willen eines Präsidenten unterworfen und die Exekutive wurde zum Vorzimmer des Präsidenten Erdogan umfunktioniert. Die Judikative eröffnet inzwischen das Gerichtsjahr beim Amtssitz des Präsidenten und nimmt auf dessen Anweisungen Ermittlungen auf und Verurteilungen vor.

Präsident Erdogan, der wegen dem Wahlerfolg der HDP seine Präsidialpläne abschreiben musste, hat inzwischen de facto sein Präsidialsystem eingerichtet. Die Verhaftung der HDP- Politiker führt insoweit nicht nur zu einer Entfremdung der friedlichen Lösung der Kurdischen Frage, sondern untergräbt auch die Staatsstrukturen der Türkei. Präsident Erdogan fährt die Türkei auf direktem Wege in einen „Ein-Mann-Staat“ zu. Die AKP sieht in seinem Entwurf zur Verfassungsänderung über die Einführung eines Präsidialsystems eine sehr kräftige Kontrollinstanz des Präsidenten vor: die Große Nationalversammlung der Türkei darf den Präsidenten bei dessen Verfehlungen des Amtes entheben; also diejenige Nationalversammlung, die nach dem Agenda des Präsidenten tagt.

Wir verurteilen daher die Verhaftung der HDP- Abgeordneten aufs Schärfste und fordern die Internationale Gemeinschaft auf, das Schweigen und die Toleranz zu brechen und die Türkei an die elementaren Grundwerte eines demokratischen Rechtsstaats zu erinnern.

Der Vorstand der DKJV e.V.